Ein ohrenbetäubender Knall, wackelnde Wände, schwerer Druck auf der Brust, völlige Dunkelheit und dann Schreie in der Ferne – das ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Ich war vier Jahre alt. Über 45 Jahre sind vergangen, doch dieses Trauma begleitet mich bis heute. Während andere Silvester feiern und Feuerwerke bewundern, ziehe ich mich in die hinterste Ecke zurück.
Mein Name ist Loan und ich bin ein Flüchtlingskind der legendären Boat People aus dem Vietnamkrieg. Mit 2500 Menschen an Bord flohen meine Eltern und ich auf dem berühmten Flüchtlingsschiff – dem Panama Öltanker „Hai Hong“. Meine Mutter und ich schliefen monatelang auf einer Kommode, die gerade mal 50 cm breit und 90 cm lang war. Medikamente und Nahrung gab es kaum.
Ich stamme aus einer angesehenen, wohlhabenden Familie. Mein Vater war Chemieingenieur und Geschäftsinhaber mehrerer Firmen. Unsere glückliche Existenz wurde durch den Krieg zerstört. Mein Vater wurde verhaftet, gefoltert und in “Umerziehungslager” gesteckt, weil er dem kommunistischen Regime weder gehorchen, noch folgen wollte. Das unsagbare Glück, von der Schweiz aufgenommen zu werden, gab uns Hoffnung. Heiligabend 1978 landeten wir in Zürich. Es war bitterkalt minus 15 Grad. Für mich als Kind war es leichter, die neue Sprache zu lernen und Freunde zu finden. Für meine Eltern war es unsagbar schwer. Sie kamen in ein Land, dessen Kultur sie nicht kannten, dessen Menschen, Essen, Sprache, Landschaft und Klima ihnen vollkommen fremd war.
Drei Monate nach unserer Ankunft begann mein Vater als Bauarbeiter zu arbeiten, meine Mutter putzte. Bald erkannte unser Betreuer die Fähigkeiten meines Vaters, der mehrere Fremdsprachen, unter anderem fließend Englisch und Fanzösisch sprach und über einen in der Schweiz nicht anerkannten Universitätsabschluss in Master hatte. Mein Vater fand Arbeit in einem renommierten Chemieunternehmen, wo er bis zu seiner Frührente tätig war. Meine Eltern versuchten, sich anzupassen und gleichzeitig ihre Kultur zu bewahren. Meine Mutter litt unter Heimweh nach einer Heimat, die es für uns nicht mehr gab. Wir verließen uns weder auf staatliche Hilfe, noch erwarteten wir Unterstützung von der Regierung. Dennoch bin ich überzeugt, dass niemand freiwillig sein Land verlässt, wenn er auf der Flucht ist.
Hat nicht jeder Mensch ein Recht auf ein glückliches Leben, egal wo? Ich wuchs zwischen zwei Kulturen und Religionen auf – meine Mutter ist katholisch, mein Vater buddhistisch. Zuhause herrschten strenge asiatische Werte, in der Schule lernte ich die westliche Kultur kennen. Dieses Spannungsfeld ließ mich oft verloren fühlen – weder ganz in der einen, noch in der anderen Welt zuhause. In Asien war ich aufgrund meiner westlichen Denkweise nicht mehr zugehörig.In Europa wegen meinem asiatischen Aussehen. Ich war überall eine Ausländerin.
Glücklicherweise erlebte ich in Deutschland nur wenige Male Rassismus. Wenn jemand sagte: “Geh nach Hause, geh in Deine Heimat zurück!”, fragte ich mich ernsthaft, welches Land er meinte. Heimat ist für mich dort, wo ich glücklich bin, wo ich Menschen um mich habe, die ich liebe und die mich leiben. Meine Freunde sagen, ich sei perfekt integriert. Aber was heißt das? Ich habe in der Schweiz studiert, in Deutschland gearbeitet, Steuern bezahlt und spreche neben sieben Sprachen auch nahezu perfektes Hochdeutsch. Bin ich nun ein guter Flüchtling? In erster Linie sehe ich mich als Mensch.
Es gibt gute und schlechte Menschen in jeder Religion, Kultur, Gesellschaftschicht und Ethnie. Bin ich ein Gutmensch, weil ich an das Gute im Menschen glaube? Oder bin ich Rassistin, weil ich die aktuelle Flüchtlingslage problematisch finde? Kann ich als Ausländerin überhaupt Rassistin sein? Warum werden wir heute so oft in eine extreme Ecke gedrängt in die wir teilweise weder als Deutsche oder Ausländer gehören? Warum kann man als Deutscher nicht sagen: “Ich bin stolz ein Deutscher zu sein oder ich bin stolz auf mein Land!” ohne gleich als Nazi betitelt zu werden? Ich fühle mich hier in Norddeutschland sehr wohl und es ist meine Heimat geworden und ich bin stolz darauf hier leben zu dürfen und wunderbare Menschen hier zu kennen.
Wenn ich heute die Flüchtlingsproblematik betrachte, erschrecken mich die Aggression und der Hass auf beiden Seiten. Ich verstehe die Traumatisierung der Flüchtlinge und die Überforderung der Bevölkerung. Aber ist diese Problematik allein die Schuld der Regierungen und der Politik? Angst vor dem Fremden ist menschlich. Vielleicht sollten wir auf beiden Seiten einen Schritt aufeinander zugehen, uns kennenlernen und helfen. Wie wäre es zum Beispiel mit einem gemeinsamen Essen? Denn eines ist klar: „Wir lachen und weinen alle in der gleichen Sprache!”. Hunger hat jeder von uns. Ich bin überzeugt, dass wir sicherlich auch die gleichen Erziehungs- oder Eheprobleme haben. Das jeder von uns auch an Liebeskummer gelitten hat und mal glücklich und mal traurig ist.
Es ist einfach, einen Sündenbock für das eigene unglückliche und unzufriedene Leben zu finden. Gewalt und Hass ist und war nie eine Lösung und entfachte Kriege. Wie wäre es, wenn wir alle versuchen aufeinander zuzugehen? Wir können die Welt nicht verändern, ohne uns selbst und unser Umfeld zu ändern.
Die Zeit auf dieser Erde ist für uns alle geliehen und vor allem begrenzt. Versuchen wir doch einfach mal ein eigenes friedliches, gewaltfreies und glückliches Umfeld zu schaffen.
Bericht: Loan Heyne